Nicht nur in der Natur, auch in der Gesellschaft findet ein immerwährender Klimawandel statt.
Nicht erst seit gestern verkündet manche Schlagzeile, das gesellschaftliche Klima werde rauer – Vergleichbares konnte man auch vor zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren lesen. Und empfinden. Denn stets gab es in der Gesellschaft Gruppen, die Veränderungen forcierten und andere, die diese bemängelten oder gar darunter litten.
Jahrzehntelang profitierte Deutschland gesamtgesellschaftlich von Aufschwung und Wirtschaftswachstum. Letzteres befindet sich noch immer, allen Krisen zum Trotz, im Aufwind. Dennoch fühlen sich immer größere Teile der Bürger abgehängt. Der Reichtum ist immer ungleichmäßiger verteilt. Auch wenn die Kaufkraft insgesamt gestiegen ist, die Partizipation bleibt vielerorts auf der Strecke.
Während es für Eltern und Großeltern der heute jungen Generation noch völlig normal war, eine zusammenhängende Erwerbsbiografie vom Schulabschluss bis zur Rente zu erleben und darin auch die Familie zuverlässig ernähren zu können, finden sich die Jungen in einer anderen Situation wieder. Sie definieren den Begriff Sicherheit neu, denn die alten Standards gelten für sie nicht mehr. Es fehlt ihnen die Verlässlichkeit und Verbindlichkeit.
Das wirkt sich auf das Privatleben aus. Es sind äußere wie innere Einflüsse, die einen Wertewandel herbeiführen und die Strukturen des Alltagslebens verändern. Schon in der Schule nimmt der Druck zu; mit dem Wechsel von Magister und Diplom zu Bachelor und Master fand eine Verschulung der Universitäten statt, zum Turbo-Abi gesellte sich das Turbo-Studium, in dem kaum mehr Zeit bleibt, auch mal über den eigenen Tellerrand zu blicken, sich in fachfremden Sachgebieten zu bilden, sich zu entwickeln. Die Scheuklappen, die jungen Menschen in der Ausbildung aufgesetzt werden, später wieder abzulegen, ist leichter gesagt als getan.
Der statistisch höchste Krankheitsgrund für Arbeitsausfälle ist heute Stress und Burn-Out, und Letzteres ist bloß ein Modebegriff für die klassische Depression.
Das Klima der Natur heizt sich auf, das gesellschaftliche kühlt ab. Eine Wechselwirkung?
Über ein Drittel der Deutschen leben heute in Singlehaushalten, in Großstädten und bei den 20-35jährigen sind es noch deutlich mehr, je nach Region über die Hälfte. Das wird oft mit Vereinsamung und einem Wegbrechen sozialer Werte gleichgesetzt, doch das ist ein Missverständnis. Ein Mehr an persönlicher Freiheit bedeutet nicht ein Weniger an Bindungen. Lediglich die Strukturen verändern sich. Die Zeiten, in denen mehrere Generationen unter einem Dach lebten und füreinander sorgten sind ebenso Geschichte wie Arbeitsplätze, auf denen man vierzig Jahre verweilt. Beim Blick von außen muss das negativ aussehen. Aber ist es das? Waren nicht viele der früheren Familienverbände auch Zweckgemeinschaften, in denen Individualität (und damit Kreativität, der Anstoß zu Neuem) nivelliert wurde? Hat der Ausbruch in die Vereinzelung nicht auch viel mit Sartres Postulat aus der „Geschlossenen Gesellschaft“ zu tun, nach der die Hölle die Anderen sind?
Man kann nicht erwarten, das eine (das Private) zu konservieren, während man das andere (die Arbeitswelt) zerfasern lässt. Der Mensch braucht Balance, Harmonie, Ausgleich. Der neue Trend, dass Geld nicht mehr so wichtig ist, Freizeit und Familie dafür umso mehr, ist die logische Folge, wenn versucht wird, jeden Aspekt des Lebens auf die wirtschaftliche Nutzbarkeit zu reduzieren. Die psychologischen Mechanismen, die dahinter stecken, sind ein alter Hut.
Wer unter Stress steht, schläft schlecht, wer schlecht schläft, steht unter Stress.
Der Rückzug ins Private, in das, was individuell als wichtig und erfüllend erfahren wird, ist notwendig, um den Teufelskreis zu durchbrechen. Wer am Tag gegen ein raues Klima kämpft, sucht ein ausgeglichenes, angenehmes in der Nacht.